Eine einfache Geschichte, so lautet der Untertitel zu Joseph Conrads Roman Der Geheimagent, der 1906 bis 1907 in Fortsetzungen erschien. Und tatsächlich ist die Handlung schnell erzählt. Adolf Verloc ist Besitzer eines schmuddeligen Krimskramsladens im Londoner Stadtteil Soho. Sein Sortiment reicht vom Pornoheftchen bis zum Stempelkissen. Nur selten verirrt sich ein Kunde in sein Geschäft.
Umso lebhafter geht es abends im Hinterzimmer zu. Denn hier versammelt sich regelmäßig ein Grüppchen von Anarchisten, um über die Weltrevolution zu räsonieren. Verloc ist Teil der Gruppe. Als Geheimagent einer ausländischen Macht soll er über ihre Aktivitäten berichten und sich selbst als Agent Provocateur betätigen. Erfolge hat er jedoch schon seit Jahren nicht mehr vorzuweisen. Daher fordert sein neuer Chef, Herr Vladimir, nun Taten.
Verloc soll innerhalb eines Monats einen Sprengstoffanschlag auf die Sternwarte, das berühmte Greenwich Royal Observatory, verüben. Verloc beschließt, dass Stevie, der geistig zurückgebliebene Bruder seiner Frau Winnie, die Bombe legen soll. Doch die Bombe detoniert zu früh. Stevie wird im Greenwich Park in Stücke gerissen:
„Glieder, Kies, Kleider, Knochen, Fetzen – alles durcheinander. Ich sage Ihnen, sie mussten eine Schaufel nehmen, um ihn zusammenzubringen.“

Winnies Welt bricht zusammen, als sie vom Tod ihres geliebten Bruders und der Agententätigkeit ihres Mannes erfährt. Doch dann entschließt sie sich zum Handeln. Am Ende werden zwei weitere Menschen ihr Leben verloren haben.
Thomas Mann bezeichnete den Roman als „antirussische Geschichte“. Und in der Tat sind die russischen Figuren allesamt überzeichnet. Herr Vladimir, Verlocs Auftraggeber, brilliert mit zeitlosen Aussagen wie: „Ich hoffe, Sie geben zu, dass die Mittelschichten verdummt sind?“ Aber auch die Namen, die Conrad für seine deutschen Figuren wählt, sprechen Bände: Da gibt es den Geheimen Staatsrat Wurmt, Siegelbewahrer der Gesandtschaft, sowie Vladimirs Vorgänger, den verstorbenen Baron Stott-Wartenheim.
Joseph Conrad schrieb in seinem Vorwort, dass er für den Roman Der Geheimagent eine ironische Herangehensweise gewählt habe. Und dies trifft in der Tat auf alle Figuren zu, die in der großen Weltgeschichte mitmischen wollen – von den verkopften, selbsternannten Revolutionären über die Londoner Polizei bis hin zum Geheimdienst.
Die einzigen Figuren, die Conrad ironiefrei und mit großer Sympathie zeichnet, sind jene, die von den geheimen politischen Machenschaften nichts wissen und ihnen schließlich zum Opfer fallen. Und genau darum lohnt sich die Lektüre des Romans auch – und gerade – im Jahr 2013.
Die englische Originalausgabe The Secret Agent ist als Taschenbuch bei Penguin Books erhältlich.
Der Geheimagent ist bei mir als nächstes dran. Sehr empfehlenswert, wenn du mehr über Conrad lesen willst: die Biografie „Fahrt ins Geheimnis: Joseph Conrad“ von Elmar Schenkel (http://wp.me/p3yEon-4G).
Danke für deine Rezension! Ich bin echt gespannt.
Liebe Nele, vielen Dank für Deinen Kommentar und auch für die Verlinkung zur Biographie – ist notiert. :-) Ich verfolge Dein Jahrhundert-Projekt übrigens mit größtem Respekt! Liebe Grüße, Andrea
Interessant, diese Biographie hatte ich noch nicht wahrgenommen. Ich kenne von Elmar Schenkel nur die H. G. Wells-Biographie.