Edgardo Cozarinsky: Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich… | Literatur aus Argentinien

Cozarinsky_Man nennt michAm Anfang war ein jiddisches Theaterstück. Zugegeben, ein schlechtes Revuestück, das zudem den reißerischen Titel Der moldawische Zuhälter trägt. Es erzählt die Geschichte von Taube, die gemeinsam mit anderen osteuropäischen Mädchen unter falschen Versprechungen nach Argentinien gelockt wird.

In der Neuen Welt erwartet sie ein Leben im Bordell. Wer nicht spurt, wird bestraft. Doch in einem Revuestück lässt der Kitsch nicht lange auf sich warten: Der Zuhälter Méndele wandelt sich vom Bösen zum Guten, rettet Taube aus ihrer misslichen Lage und beide tanzen, begleitet von Tango-Rhythmen, einem besseren Leben entgegen.

Es ist dieses jiddische Theaterstück, auf das ein junger Student in Buenos Aires stößt, nachdem ihm der alte Samuel Warschauer einen ganzen Schuhkarton voller Theaterprogramme aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat. Sie alle zeugen von der Blüte jüdischer Kultur in der argentinischen Hauptstadt.

Es ist weniger wissenschaftlicher Forschungsdrang als detektivische Neugier, die den Studenten dazu veranlasst, die Hintergründe des jiddischen Zuhälterstücks zu erfahren. Er spricht mit Hinterbliebenen und Zeitzeugen und taucht so immer mehr in die Vergangenheit des jüdischen Buenos Aires ein.

Doch wo dem jungen Studenten die notwendigen Fakten fehlen, da hilft nur eine eigene Geschichte aus Fragmenten der erahnten Wirklichkeit. Diese Geschichte entspinnt sich um die damals real existierende Zuhälterorganisation Zwi Migdal, die jüdische Mädchen aus Osteuropa an Freier in Südamerika verkaufte. In dieser düsteren Welt spielen der alte Samuel Warschauer und der Autor des jiddischen Theaterstücks eine entscheidende Rolle.

Letztendlich wird klar: Die Geschichte wiederholt sich. Und so spiegeln sich die Worte des alten Samual Warschauer in der Erinnerungsarbeit des jungen Studenten wider: „Es ist gefährlich, Geschichten zu erfinden. Wenn sie gut sind, werden sie am Ende Wirklichkeit und nach einer Weile werden sie überliefert, und dann ist es egal, ob sie erfunden wurden, denn es wird immer jemanden geben, der sie erlebt hat.“

Im spanischen Original trägt der Roman von Edgardo Cozarinsky den Titel El rufián moldavo, also Der moldawische Zuhälter. Der deutsche Titel nimmt Bezug auf das Lied, das Taube im Theaterstück singt: „Heute verkauf‘ ich mich als Tangotänzerin, man nennt mich flatterhaft und was weiß ich…“.

Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich… ist ein kurzer Roman von rund 140 Seiten, der es in sich hat. Vergangenheit und Gegenwart verdichten sich im Zusammenspiel von Realität und Fiktion. Edgardo Cozarinskys Roman ist eine literarische Perle für jeden, der einige Stunden in die jüdische Kultur Lateinamerikas eintauchen möchte.

Edgardo Cozarinsky: Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich… Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Sabine Giersberg. Taschenbuch. 144 Seiten. Verlag Klaus Wagenbach. ISBN 978-3-8031-2637-5

 

 

19 Kommentare zu „Edgardo Cozarinsky: Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich… | Literatur aus Argentinien

  1. Wieder mal eine verrückte (triste!) Geschichte, die da verarbeitet wird … Darf ich nachfragen, wie dir das Buch persönlich gefallen hat? In dem Punkt hält sich die Besprechung etwas zurück bis auf die „Perle“. Würde mich interessieren. :)

    Aus dieser Argentinien-Reihe von Wagenbach habe ich eine kurze Rezension zu Juan José Saer, „Die Gelegenheit“ noch in petto, falls mir mal nichts einfällt. Eine schöne Reihe, finde ich.

    1. Und ich dachte „ein Roman, der es in sich hat“ würde andeuten, dass mir das Buch gefallen hat. :-) Also, ich halte den Roman für ausgesprochen gut geschrieben, in Sachen Stil, Personal und Handlungsstruktur. Natürlich muss man ein gewisses Interesse an Erinnerungskultur und am jüdischen Leben in Lateinamerika haben, um dem Roman etwas abgewinnen zu können. Meiner Meinung nach verdient Edgardo Cozarinsky als Autor auf jeden Fall mehr Beachtung.
      Die Argentinien-Reihe von Wagenbach finde ich auch sehr hübsch. Und Deine Rezension zu Juan José Saer würde mich arg interessieren. Bitte VERÖFFENTLICHEN!! :-)

      1. Du hast recht, „andeuten“ tut es das auf jeden Fall, aber es hätte ja auch eine intellektuelle Verbeugung vor einer literarischen Leistung sein können, die deinen Geschmack gar nicht trifft. ;) Herzlichen Dank für deine Rückmeldung!

    1. Ja, es ist tatsächlich ein ganz besonderer Roman, liebe Peggy. Vielleicht findet er irgendwann den Weg zu einem Deiner wunderschönen Leseplätzchen… :-)

    1. Liebe Petra, ich habe gesehen, dass Du den Roman lange vor mir gelesen und besprochen hast – und freue mich sehr, dass er für Dich ebenfalls eine bereichernde Lektüre war! Liebe Grüße, Andrea

  2. Und es ist egal, ob die Geschichte wahr ist, Hauptsache, sie ist gut erzählt… Wieder ein Buch, das noch irgendwo dazwischen geschoben werden will. Zum Glück hat es ja nur 140 Seiten. Ich freue mich, dass ich hier immer wieder auf Bücher stoße, die ich sonst nie finden würde.

  3. Das klingt nach einem hochinteressanten Buch, kommt auf jeden Fall auf meine Leseliste. Und wie der Zufall so spielt, erst vor kurzem hatte ich den Roman „Hannahs Briefe“ des brasilianischen Autors Ronaldo Wrobel gelesen, der ebenfalls diesen beschriebenen Mädchenhandel thematisiert. Hier geht es um die jüdische Gemeinde im Rio de Janeiro der 30er-Jahre. http://kaffeehaussitzer.de/?p=1227

      1. Ja, ich kenne das. Und Dein Satz war auch mein erster Gedanke, als ich das Buch (Cover in Kombination mit dem Romantitel) zum ersten Mal sah. :-)

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