Kaiserstraße Mainz, 10. November 1938: „Dann gab es ein fürchterliches Krachen an unserer Wohnungstür, und bevor wir wussten, wie uns geschah, standen wir plötzlich einer großen Horde von Männern gegenüber […] Alles splitterte und brach in Stücke.“
Nachbarn sammeln die im Hof verstreute Kleidung auf. Am folgenden Tag schaut ein Polizist vorbei. Er verspricht der Familie, dass dem Vater, der sich auf dem Speicher versteckt, nichts geschehen werde. Aber danach, so Renata Schwarz in ihren Erinnerungen Von Mainz nach La Paz, war nichts mehr wie zuvor. Der Vater kann nach den Ereignissen vom 10. November acht Tage lang nicht sprechen: „Bei ihm war innerlich etwas zerbrochen.“ Renatas Familie flieht nach Lateinamerika.

Anny Salomon, Kaiserstraße 37
Auch Fritz Siegfried Salomon und Anny Salomon wohnten in der Mainzer Kaiserstraße. Anny wurde 1942 nach Polen deportiert und ermordet. Ihr Ehemann Fritz Siegfried nahm sich nach einem Verhör durch die Gestapo das Leben.

Ein weiterer Mainzer Bürger aus der Kaiserstraße: Carl Theodor Frank. Er wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er verhungerte. In Mainz war Carl Theodor Frank nicht nur als Holzhändler bekannt, sondern auch als Vater des Schriftstellers und Regisseurs Rudolf Frank.
Wir sind immer noch in der Kaiserstraße, jetzt an der Ecke zur Leibnizstraße: Eine Gedenktafel am Gebäude der ehemaligen Gestapo-Außenstelle Mainz erinnert an die Opfer des Nazi-Regimes. „Funktion“der Außenstelle: Überwachung, Verfolgung, Folterung und Deportation.

Folgt man der Kaiserstraße in Richtung Universität, gelangt man zur Parcusstraße, wo sich das Geburtshaus von Anna Seghers befindet. Anna Seghers (Geburtsname: Netty Reiling) gelang die Flucht ins Exil. Ihre Mutter Hedwig Reiling wurde 1942 nach Polen deportiert und ermordet. Mit Hedwig Reiling deportiert wurde auch Anna Seghers‘ ehemalige Lehrerin Johanna Sichel. Beiden Frauen verlieh Anna Seghers in ihrer Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen literarische Unsterblichkeit.

Von der Kaiserstraße sind es nur wenige Schritte bis zur ehemaligen Hauptsynagoge Mainz in der Hindenburgstraße. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 geht die Synagoge in Flammen auf. Wohnungen und Geschäfte jüdischer Bürger werden verwüstet und geplündert. Wenige Tage später ordnet das Mainzer Bauamt die Sprengung der ausgebrannten Synagoge an. Für die Kosten der Sprengung muss die Jüdische Gemeinde aufkommen.
Neue Synagoge Mainz, 9. November 2013: Während der Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Pogromnacht zeigt die Polizei Präsenz. Drei Polizisten auf dem Synagogenplatz, sie sind relaxt. Man redet über Privates. Keine „Zwischenfälle“.
Quellen & weiterführende Lektüre:
Renata Schwarz: Von Mainz nach La Paz. Kindheit eines jüdischen Mädchens in Deutschland und Flucht nach Bolivien (2007). Herausgegeben vom Verein für Sozialgeschichte Mainz e.V., ISSN 1435-8026, 165 Seiten, 10 Euro. – Bestellung & weitere Informationen auf der Website des Vereins für Sozialgeschichte Mainz e.V.
Website Jüdische Gemeinde Mainz
Website Mainz im Nationalsozialismus 1933-1945 des Vereins für Sozialgeschichte Mainz e.V.
Stolperstein-AG des Frauenlob-Gymnasiums Mainz
Broschüre Frauenleben in Magenza (2010). Herausgegeben vom Frauenbüro Mainz (pdf-Download)
Erschreckend, immer wieder. Ich habe gerade mit den Kindern über diese Zeit gesprochen. Es ist so schwer, diesen Wahnsinn zu begreifen…
… und wahrscheinlich auch, ihn Kindern zu vermitteln. Aber ich habe ja in Deinem Blog gelesen, dass Deine Tochter mit großem Interesse das Tagebuch der Anne Frank liest…
Auch ein interessantes Erinnerungsprojekt gibt es in meiner Nachbarschaft. Es macht mich immer wieder auf’s Neue fassungslos: http://de.wikipedia.org/wiki/Orte_des_Erinnerns_(Bayerisches_Viertel)
Lieber Norman, das ist ja wirklich sehr interessant – endlich einmal ein Erinnerungsprojekt, das auch wirklich auffällt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass offizielle Gedenktafeln etc. an Stellen angebracht sind, wo sie normalen Passanten nicht ins Auge fallen… Viele Grüße!
Zum Glück gibt es viele ganz unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit den unsagbaren Geschehnissen.
siehe auch da:
http://wittlicher.wordpress.com/2013/11/11/filmtipp-familiengeschichte/
Ja, das stimmt… Vielen Dank für den Link!
und noch ein link:
http://www.flickr.com/photos/werner43/sets/72157608629071521
zum 70. Jahrestag des Novemberpogroms haben Schüler der Wittlicher Dualen Oberschule (heute Clara-Viebig-Realschule plus) nach dem Vorbild der Aktion im Bayerischen Viertel in Berlin entsprechende Tafeln gestaltet und sie für einige Wochen in der Innenstadt angebracht.
Tatsächlich sehr beeindruckend! Eine tolle Initiative & gut, dass die Tafeln nicht nur am Gedenktag, sondern über mehrere Wochen hinweg zu sehen waren. Vielen Dank auch für diesen Link!
Hallo! Kennst du das Trotz alledem-Projekt vom Künstlerduo Uah? Das werden Menschen porträtiert, die teils ganz im Privaten ihren persönlichen Widerstand geleistet haben. Gab schon schöne Ausstellungen in Mainz und Umgebung: http://www.widerstand-portrait.de/ Wenn mal wieder eine ist, wäre das bestimmt was für dich!
Das Projekt kenne ich. Die Ausstellungen, die ja schon eine Weile her sind, habe ich aber leider verpasst. Wenn Du Neuigkeiten dazu hast, bitte kehre mit einer Information hierher zurück! :-) Viele Grüße!
Danke für den Blogpost. Da lebt man nun vier Jahre in Mainz und hat nicht die leiseste Ahnung… Ich werde die von dir genannten Orte ablaufen und nachdenken.
Ja, bei mir hat es auch einige Jahre gedauert, bis ich auf diverse Erinnerungsorte gestoßen bin. Danke für Deinen Kommentar und viele Grüße!