Vom unverschämten Glück, immer eine Pechsträhne zu erwischen – Georges Anglades „Das Lachen Haitis“

Das Lachen HaitisGeschichtsunterricht in Port-au-Prince: „Gegeben sei der Gesamthaushalt Frankreichs in diesem Jahr und ein zum Kapital geschlagener Zins von 12% über hundertfünfzig Jahre (1825-1975). Berechnen Sie, welcher Betrag Haiti eines Tages zusteht. Korrekte Antwort: Die Summe ist so hoch, dass Frankreich zur Begleichung dieser Schulden sein Juwel, den Eiffelturm, versetzen müsste.

Die Haitianer als legitime Erben und Gläubiger des Eiffelturms: Das war schon etwas!“, findet der Erzähler in Georges Anglades Das Lachen Haitis. In neunzig Miniaturen nimmt Anglade den Leser mit auf eine Reise durch Haitis jüngste Geschichte. 

Mit viel Ironie und großer Sympathie schildert Anglade das Leben in der haitianischen Provinz: In Quina, wo sich die Koryphäen ihres Fachs zum Krabbengipfel treffen, wird die Systematik der Krustentiere, die über 5.000 Krabbenarten umfasst, neu geschrieben: Wir taten uns noch weiter hervor und teilten sie feiner in essbare, nicht essbare und tödliche ein. Ein origineller Beitrag von Quina.

Überhaupt ist man in Quina praktisch veranlagt: So finden die vier Greise des Dorfes, dass die Sprechzeit der Menschen streng rationiert gehöre. Die Durchschnittszahl der absolut notwendigen Wörter pro Menschenleben liege bei einer Million, basierend auf „fünfhundert Wörtern pro Tag bei einer lokalen Lebenserwartung von zwanzigtausend Tagen.“ Doch nicht jeder hält sich an dieses Limit. Und so kann es vorkommen, dass im Gebirge die Leiche eines Mannes gefunden wird, der nach seiner Rückkehr aus Kuba zu viel von Gewerkschaften, Demonstrationen und Arbeiterstreiks sprach. Es war der Mann, der zu viel redete.

Aus Quina führt der Weg nach Port-au-Prince, wo im Collège Métropolitain darüber diskutiert wird, welchen „Platz in der Hitparade der Katastrophen und Holocausts Haiti wohl einnehme. Es folgen das Exil und die Rückkehr nach Haiti: Ich habe einen Freund, der, um unser Unglück zu beklagen, ständig wiederholt, was für ein unverschämtes Glück wir immer haben, wenn es darum geht, eine Pechsträhne zu erwischen.“

Am 12. Januar 2010 erschüttert ein Erdbeben die Region um Port-au-Prince. Die Zahl der Toten kann weiterhin nur geschätzt werden. Fest steht, dass deutlich mehr als 200.000 Menschen ihr Leben verloren. Georges Anglade gehörte zu ihnen.

Georges Anglades Erzählweise ist geprägt von Witz, Charme und einer unaufdringlichen Melancholie. Vor allem aber zeugt Das Lachen Haitis von einer großen Verbundenheit mit den kleinen und großen Schicksalsschlägen der Haitianer. Während der Duvalier-Diktatur als politischer Gefangener in Haft, avancierte Georges Anglade unter der Regierung Aristide zum Minister. Zu seinen bekanntesten Werken zählt Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt?. 

Dem Verlag litradukt ist nicht nur die deutsche Übersetzung von Das Lachen Haitis zu verdanken, sondern auch die Übertragung einer ganzen Reihe weiterer lesenswerter Literatur aus Haiti, hierunter Gary Victors Krimi Schweinezeiten.

Georges Anglade: Das Lachen Haitis. Neunzig Miniaturen. Aus dem Französischen von Peter Trier. 312 Seiten. 2008. ISBN 978-3-940435-06-4.

3 Kommentare zu „Vom unverschämten Glück, immer eine Pechsträhne zu erwischen – Georges Anglades „Das Lachen Haitis“

  1. Hab gerade die Verlagsseite durchstöbert und allerhand Interessantes entdeckt. Immer wieder bewundernswert, wie sehr sich Verlage spezialisieren und damit einen wichtigen Beitrag liefern.
    Danke für den Tipp!

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