Sachor

9. November 2018, 18 Uhr. Vor der Mainzer Synagoge.

Feierabendverkehr. Menschen steigen aus dem Bus, andere kommen zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Sie bringen Kerzen mit, zünden sie an, verharren.

Neben mir ein älterer Herr aus dem Iran. Er weint.

 

Schwebende Bücher, erste Worte, Lesefreude – Welttag des Buches

Ein libro sospeso ist ein schwebendes Buch. Schwebend? Warum denn schwebend? Pate stand ein Brauch aus Neapel, erfahre ich, der Caffè sospeso. Man trinkt einen Kaffee und zahlt zwei. Der zweite Kaffee bleibt in der Schwebe, bis ein Bedürftiger kommt und um einen Kaffee bittet.

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Allein unter Männern

I.

Zuerst sehe ich die Urkunden. Die Urkunden, dann das Fax-Gerät und den Computer. M. selbst sitzt am Schreibtisch, lächelt stolz, in schwarzem Anzug. „Meine Kanzlei“, erklärt er mir.

Jetzt steht M. am Grill. Ein großer Garten. „Mein Haus.“

Ziemlich keck, der Kleine, das Papier gerollt im Mundwinkel, er mimt grinsend einen Raucher. „Mein Jüngster, zwei Jahre.“ M. lächelt.

„Meine Frau.“ Sympathisch, finde ich, freundliches Lächeln. „Wo ist sie jetzt?“ „Sie wartet. Mit den Kindern.“

„Mein Auto.“ Finger huschen über das Display. Zoom. Zwei Einschusslöcher über dem Vorderreifen. Wir blicken uns an.

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Oh Freunde, diese Töne.

Die AfD. Gestern in Mainz unter dem Gutenberg-Denkmal.

Der Dom dunkel, das Mainzer Staatstheater mit Bahnhofsbeleuchtung und Banner aus Lessings Nathan: „Es eifre jeder seiner unbestochenen von Vorurteilen freien Liebe nach.“

Rund 1.000 Gegendemonstranten lärmen, was das Zeug hält. Lauter Applaus, als aus dem Theater die Ode an die Freude erklingt: „Alle Menschen werden Brüder.“

Vor mir, direkt an der Absperrung, eine alte Dame, die im strömenden Regen mit ihrer Trillerpfeife unablässig gegen die AfD anlärmt. Bei ihr ein Flüchtling. Er ist ganz stumm und hält ihr den aufgespannten Regenschirm über den Kopf.

Mainz noafdmz_01

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Sprayer bei der Arbeit: Meeting Of Styles Germany, Mainz-Kastel

„Auf die Leiter!“, ruft jemand über die Gleise, der Street Artist winkt lachend zurück und setzt seine Arbeit gehorsam fort.

An diesem Wochenende findet erneut das Meeting Of Styles Germany statt. Künstler aus aller Welt verschönern die Wände rund um den Brückenkopf in Mainz-Kastel mit ihren (hier) legalen Kunstwerken. An einigen Häusern entstehen beeindruckende Murals. Der Bahnhof von Mainz-Kastel leuchtet in neuen Farben; ebenso die Lärmschutzwände an den Gleisen, einige Gehminuten rheinaufwärts.

Es ist ein buntes Familienfest bei Sonnenschein. Kleine Kinder tanzen zu Live-Rapmusik, ein Junge probiert sich unter fachkundiger Anweisung des Experten an der Dose (ja, natürlich mit Atemschutz).

Sprayer bei der Arbeit, Szenen vom Samstag:


Meeting of Styles Mainz-Kastel 01

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Street Art Mainz: Menschen, Monster, Aliens

 

Popkultur goes Subkultur?

Wand- und Bodenmalereien auf den Straßen von Mainz, featuring Spock (auf der Brücke), Satzbaumeister Yoda, Monk, Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter „Pippi“ Langstrumpf sowie Donald Duck – nebst einer Warnung bezüglich der seit Monaten voranschreitenden Monster-Invasion.

Street Art Mainz Spock: Erster Offizier auf der Brücke

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Street Art Mainz: Piggeldy und Frederick

„Frederick, was ist eigentlich Jazz?“ Oder auch: „Frederick, was ist eine Bausünde?“ Bei ihren Wanderungen durch die Straßen von Mainz haben die Großstadtflaneure Piggeldy und Frederick einige wichtige Themen zu klären.

„Frederick, woher kommt eigentlich der Strom?“ Gute Frage – gestellt auf einem Mainzer Stromkasten (Bekleben verboten).

StreetArt_Mainz_Piggeldy und Frederick 02 _Strom

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Mr. Burns‘ Aktien: Hinterhofrevoluzzer

Gelegentlich passiert es, dass die Betreiberin dieses Blogs zu einer bibliophilen Rede von Umberto Eco eilt und sich plötzlich in einem idyllischen, antikapitalistischen Hinterhof wiederfindet.

Was die Blog-Betreiberin sah: eine Auftragsarbeit mit den wichtigsten Akteuren eines potenziellen Klassenkampfs, repräsentiert durch Homer Simpson und Mr. Burns. Ein überdimensionales Mural, verborgen vor dem Blick der Öffentlichkeit. Graffiti zweifellos, von Street Art mag man nicht so gerne sprechen. Darum, Völker, sehet die Hinterhofsignale und tragt sie auf die Straße.

Graffiti Mainz_Homer Simpson

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Street Art Mainz: Herbstliches mit Schirm, Pinguin und Melone

Herbst – das ist die Zeit, wenn die Figuren an den Wänden ihre Regenschirme aufspannen und ihre Ohren mit einer Melone vor dem frostigen Wind schützen.

Keinen Hund mag man so auf die Straße schicken. Dafür begegnen wir bei diesen widrigen Wetterverhältnissen nun immer öfter dem Pinguin. Und obwohl er dank seiner wasserfesten Federschichten gegen den Regen gewappnet sein sollte, blickt er uns doch häufig grimmig von den Wänden an.

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Lektüre überlebt: Jürgen Heimbachs Regionalkrimi „Chagalls Rache“

Heimbach Chagalls RacheVon Axel Hacke stammt der schöne Satz: „Erst wenn der letzte deutsche Lehrer und der letzte deutsche Journalist einen Regionalkrimi geschrieben haben werden, werdet ihr merken, dass man’s auch übertreiben kann.“

Als großer Freund der Kulturindustrie habe ich schon so manchen Protagonisten seufzend, die Lippen zusammen pressend und innerlich fluchend erlebt – warum also, so fragte ich mich, nicht einmal einige Lesestunden mit dem liebsten Kind der Regionalpresse und dem größten Feind des überregionalen Feuilletons verbringen?

Zugegeben, ich war auf der Suche nach etwas richtig Schlechtem, als ich vor dem Regionalkrimi-Sortiment meiner Mainzer Buchhandelsnachbarschaft Bukafski stand: unterirdischer Stil, flache Charaktere und endlos verwickelte Ortsbeschreibungen, um den Text mit möglichst vielen regionalen Sehenswürdigkeiten aufzublähen. Alle meine Vorurteile gegenüber dem Regionalkrimi sollten sich bestätigen.

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Street Art Mainz: Das Boot ist toll

Unter der Grünen Brücke, da lebt nicht nur der gefräßige Bücherwurm. Unter der Grünen Brücke, da ist das Boot der multikulturellen Schiffscrew noch lange nicht voll.

Und während ein Kind, an der Hand seiner Mutter, stehen bleibt, um den fliegenden Piratenvogel genauer zu betrachten, fragen wir uns, was wohl passiert wäre, wenn die Polizei die Urheber solcher Schmierereien auf frischer Tat ertappt hätte.

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Der Mainzer Sand: „Man nehme keine Grabungen vor.“

Er ist ein ziemlich cooler Käfer, der Feldsandläufer. Tritt ihm der Mensch zu nahe, breitet er seine bläulich schimmernden Flügel zum kurzen Flug aus und stellt sich seinem Gegner angriffslustig entgegen.

Er ist ein ziemlich ignorantes Wesen, der Mensch. Dort, wo vor über 10.000 Jahren eine einzigartige Steppenlandschaft entstand, baute er dem kleinen Feldsandläufer im Jahr 1966 eine Autobahn vor die feinen Fühler.

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An den Wänden: Die Tiere der Mainzer Neustadt

Irgendwo zwischen dem Mainzer Regierungsviertel, der Einkaufsmeile Boppstraße und den Urban Benchmarks am Zollhafen haben sie offenbar ideale Rahmenbedingungen vorgefunden. Man möchte sie sogar fast endemisch nennen, die Tiere an den Wänden der Mainzer Neustadt.

Da ist zum Beispiel der Kein-Stress-Panda, das wohl berühmteste Stencil der Neustadt. Die Botschaft des Pandas ist so wahr, so zeitlos, dass er uns Passanten schon seit Jahren mit mahnenden Augen anblicken darf. In der unmittelbaren Umgebung lebt auch der Neustadt-Affe. Ortsunkundige orientieren sich bitte am Hinweispfeil.

Und dann gibt es natürlich noch die süüüüüüßen Tiere mit den grooooooooooßen Augen:

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Das traurige Mädchen und die Stadtgeister: Déjà-vus in Mainz und Frankfurt

In Mainz nennt man sie Maria oder Das traurige Mädchen. Gelegentlich wird sie auch als Mysterious Lady bezeichnet. Manchmal ist ihr Blick leer, manchmal vorwurfsvoll, aber immer schwingt die Traurigkeit mit, wenn sie uns an jenen tristen Orten der Stadt anblickt, die niemals Aufnahme in die Tourismus-Broschüren finden werden. Und dabei ist doch auch sie ein „echtes Meenzer Mädsche” – eben nur nicht „goldisch”, sondern immer ein wenig traurig.

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Die Mainzer Republik, oder: War da was? – Jörg Schweigards „Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein”

Mainzer RepublikSchwer vorzustellen, aber es gab eine Zeit, in der es Schriftsteller und Gelehrte aus aller Welt nach Mainz am Rhein zog. Freimaurer, Illuminaten, Lesegesellschaften, Landsmannschaften – es war einiges los in der Stadt. Im Jahr 1789 erreichte zudem der Pariser Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit den Rhein – und die Toleranz des Mainzer Kurfürsten Karl Friedrich von Erthal seine Grenzen. Denn wo früher hinter verschlossenen Türen debattiert wurde, wurde nun öffentlich protestiert.
Jörg Schweigard berichtet in Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein über die bewegten Jahre vor und während der kurzlebigen Mainzer Republik, die von Oktober 1792 bis Juli 1793 währte. Er stellt die zentralen Akteure der Zeit sowie ihre Organisationsformen vor, die schließlich zum ersten demokratisch gewählten Parlament auf deutschem Boden führten.

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Neulich, beim Schrubben der Taubenkacke

Einen Kopf kleiner als ich und ungefähr dreißig Jahre älter. Der Herr im abgetragenen Anzug nähert sich im Zickzackkurs, während ich der urbanen Taubenkacke den Kampf ansage. Mit einem kleinen Zettel in der Hand winkt er mir zu, deutet auf sich selbst und sagt: „Syrien.“

„Hallo“, sage ich so weltoffen, wie es einem Deutschen möglich ist.

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Was macht eigentlich so ein Blogger…


Was macht eigentlich so ein Blogger, wenn er (oder in meinem Fall: sie) gerade nicht bloggt? Es könnte sein, dass sich ein Blogger in diesem Fall weiteren Herzensangelegenheiten widmet.

GreenC_1Zu diesen gehörte in den letzten Wochen vor allem der Green City Guide Mainz, der erste nachhaltige Stadtführer für Mainz, an dessen Lektorat ich mitwirken durfte.

Der Stadtführer enthält nicht nur äußerst freundliche Geschäfte aus meiner Nachbarschaft, wie das Neustadteis und Bukafski Buchhandlung & Café, sondern auch lehrreiche Beiträge zum Thema Nachhaltigkeit sowie grüne Ausflugs- & andere Geheimtipps.

Bitte kauft den Green City Guide im vernünftigen Buchhandel. Ihr wisst, wen ich damit nicht meine (ISBN: 978-3-95575-035-0).

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Stattlektion: Leerstandstraum mit Gregory Peck

Letzte Nacht träumte mir, ich sei wieder am Mainzer Hauptbahnhof. Mir war, als erhielte ich von hinten einen kleinen Schubser. Und tatsächlich, es war Gregory Peck. Er sprach Arabisch, doch ich konnte ihn mühelos verstehen.

„Hier“, sagte Gregory, indem er mich hinaus auf den Bahnhofsplatz zog, „hier bin ich früher oft abgestiegen, und es war immer ein Heidenspaß.“ Mit jungenhafter Geste wies er hinüber zu jenem Ort, der sich Central Hotel Eden nennt.  Mainz Central Hotel Eden

„Hier?“, fragte ich erstaunt. „Das Hotel steht nun schon seit Jahren leer.“

„Aber keineswegs“, entgegnete Gregory, „schau doch mal durch die Fenster“.

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Denk ich an Mainz in der Nacht…


Von Mainz nach La PazKaiserstraße Mainz, 10. November 1938: „Dann gab es ein fürchterliches Krachen an unserer Wohnungstür, und bevor wir wussten, wie uns geschah, standen wir plötzlich einer großen Horde von Männern gegenüber […] Alles splitterte und brach in Stücke.“

Nachbarn sammeln die im Hof verstreute Kleidung auf. Am folgenden Tag schaut ein Polizist vorbei. Er verspricht der Familie, dass dem Vater, der sich auf dem Speicher versteckt, nichts geschehen werde. Aber danach, so Renata Schwarz in ihren Erinnerungen Von Mainz nach La Paz, war nichts mehr wie zuvor. Der Vater kann nach den Ereignissen vom 10. November acht Tage lang nicht sprechen: „Bei ihm war innerlich etwas zerbrochen.“  Renatas Familie flieht nach Lateinamerika.

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Bücher-Juni in Mainz: Die üblichen Verdächtigen in Taschenbuch-Ausgaben

Büchermarkt der Mainzer Johannisnacht: Da waren sie wieder, die gleichen Bücher, die man selbst schon einmal besessen, nicht gelesen und schließlich auf dem Flohmarkt verkauft hat. Steinbeck, Hesse, Lenz, die üblichen Verdächtigen in Taschenbuch-Ausgaben. Es war aber auch ein Wiedersehen mit lieb gewonnenen Freunden, wie etwa den englischen Originalausgaben diverser Star Trek-Romane oder den Werken von Heine und Böll.

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