Die kleine Amina kennt viele gute Verstecke: unter dem Bett, im Schrank, hinter dem großen Sessel, in der Waschküche. Verstecken ist ihr Lieblingsspiel. Ihre Mutter braucht immer sehr lange, um sie zu finden. Oder zumindest tut sie so. Amina isst auch gerne die gefüllten Weinblätter, die ihre Mutter zubereitet. Aminas Vater mag die gefüllten Weinblätter ebenfalls. Oder zumindest tut er so. Animas Vater ist ein schlechter Lügner.
Schlagwort: Flucht & Migration
Schwebende Bücher, erste Worte, Lesefreude – Welttag des Buches
Ein libro sospeso ist ein schwebendes Buch. Schwebend? Warum denn schwebend? Pate stand ein Brauch aus Neapel, erfahre ich, der Caffè sospeso. Man trinkt einen Kaffee und zahlt zwei. Der zweite Kaffee bleibt in der Schwebe, bis ein Bedürftiger kommt und um einen Kaffee bittet.
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Navid Kermani: Einbruch der Wirklichkeit
Es gibt Flugzeuge, die fliegen schneller als der Schall, doch „im Jahr 2015 marschieren die Flüchtlinge durch Europa wie das Volk Israel nach der Flucht aus Ägypten“. Und, so Navid Kermani weiter: „In Bibelfilmen oder auf Gemälden sieht man dann immer einen großen Menschenpulk mit dem Propheten an der Spitze.“
Digitales zum #Indiebookday
Liebe Apokalyptiker,
ich bin integriert. Schon seit Monaten. Ich lese E-Books, und zwar mit großem Gewinn. Zum Indiebookday empfehle ich daher einige meiner jüngsten Lektüre-Highlights aus unabhängigen E-Book-Verlagen:
#delicious_german_viza
Assaf Alassaf: Abu Jürgen. Mein Leben mit dem deutschen Botschafter
Im Rahmen seiner Kampagne für das deutsche Visum schwört Abu Rita der argentinischen Fußballmannschaft ab, er lässt das Haus der deutschen Botschaft in Beirut bespitzeln, liest Brecht und gibt eine maßgeschneiderte „schwarze Hose aus Pfirsichsamt mit achtzehn Bundfalten“ in Auftrag – was man als Syrer eben so für ein deutsches Visum tut.
Allein unter Männern
I.
Zuerst sehe ich die Urkunden. Die Urkunden, dann das Fax-Gerät und den Computer. M. selbst sitzt am Schreibtisch, lächelt stolz, in schwarzem Anzug. „Meine Kanzlei“, erklärt er mir.
Jetzt steht M. am Grill. Ein großer Garten. „Mein Haus.“
Ziemlich keck, der Kleine, das Papier gerollt im Mundwinkel, er mimt grinsend einen Raucher. „Mein Jüngster, zwei Jahre.“ M. lächelt.
„Meine Frau.“ Sympathisch, finde ich, freundliches Lächeln. „Wo ist sie jetzt?“ „Sie wartet. Mit den Kindern.“
„Mein Auto.“ Finger huschen über das Display. Zoom. Zwei Einschusslöcher über dem Vorderreifen. Wir blicken uns an.
„Die Tauben verstanden das aber nicht.“ – Abbas Khider: Die Orangen des Präsidenten
Als Mahdi neun Jahr alt ist, fällt sein Vater im Ersten Golfkrieg. Seitdem nennt man Mahdi den Märtyrersohn. In der Schule erhält er als Belohnung in allen Fächern zehn Punkte. Seine Mutter, ganz pragmatisch, kauft mit dem Geldgeschenk der irakischen Regierung eine Wohnung und eröffnet einen kleinen Laden – den nennt sie „Märtyrergemüsegeschäft“.
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„Diese Welt ist ein Wald.“ – Ein Chat von der Flucht
„Das ist keine Reise, das ist ein Roman“, schreibt Faiz. Da ist er schon mehrere Wochen unterwegs. Eine „furchtbare Reise“ sei es, teilt er Julia im Chat mit. Und auch: „Es ist alles ein Abenteuer oder ein Roman.“
In seiner syrischen Heimat war Faiz Medienaktivist. Nun wird er gesucht, „vom Regime und von ISIS“. Seine Flucht führt ihn aus der Türkei durch Mazedonien und Serbien, dann nach Rumänien. Julia ist Faiz‘ virtuelle Reisebegleiterin. Immer wieder fragt sie ihn, wie sie ihm helfen könne. Sie erlebt die einzelnen Etappen seiner Flucht und immer wieder die Rückschläge. Mehrmals wird Faiz von der Polizei aufgegriffen, landet im Gefängnis: „Ich geh einfach zurück nach Syrien. Ich bin ein Pechvogel. Immer werde ich erwischt.“
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Brick Lane
Farben-Flash im Londoner East End: Da stehen wir nun also, aus Shoreditch kommend, in der Brick Lane. Ecke Hanbury Street.
Wir befinden uns in Spitalfields, genauer gesagt, „südlich der großen Gleise“. Mit diesen Koordinaten hatte mich Zeilentiger kurz vor der Reise ausgestattet.
Oh Freunde, diese Töne.
Die AfD. Gestern in Mainz unter dem Gutenberg-Denkmal.
Der Dom dunkel, das Mainzer Staatstheater mit Bahnhofsbeleuchtung und Banner aus Lessings Nathan: „Es eifre jeder seiner unbestochenen von Vorurteilen freien Liebe nach.“
Rund 1.000 Gegendemonstranten lärmen, was das Zeug hält. Lauter Applaus, als aus dem Theater die Ode an die Freude erklingt: „Alle Menschen werden Brüder.“
Vor mir, direkt an der Absperrung, eine alte Dame, die im strömenden Regen mit ihrer Trillerpfeife unablässig gegen die AfD anlärmt. Bei ihr ein Flüchtling. Er ist ganz stumm und hält ihr den aufgespannten Regenschirm über den Kopf.
NoViolet Bulawayo: Wir brauchen neue Namen
Namen gibt es viele in diesem Roman: Da ist die junge Protagonistin Darling, die mit ihren Freunden Bastard, Chipo und Godknows durch die Straßen ihres Ortes zieht. Der Ort trägt den Namen Paradise. Paradise ist eine Blechhüttensiedlung.
Um sich die Zeit zu vertreiben, erfinden Darling und ihre Freunde Spiele, zum Beispiel das Landspiel: „Aber vorher müssen wir uns um die Namen streiten, weil alle bestimmte Länder sein wollen, also alle wollen USA sein und England und Kanada… Keiner will so ein lumpiges Land sein wie Kongo, Somalia oder Irak, wie Sudan, Haiti oder Sri Lanka oder auch das, in dem wir leben.“
Wie groß sollte unser Aufmerksamkeitskreis sein? Zadie Smiths Erzählung „Die Botschaft von Kambodscha“
In einer alten Metro-Ausgabe liest Fatou die Geschichte einer Londoner Sklavin. Wenn Fatou ihr eigenes Leben als Haushälterin im Nordwesten von London mit dieser Sklavin vergleicht, dann geht es ihr eigentlich ganz gut.
Sie wurde noch nie von ihren Arbeitgebern verprügelt. (Gut, geohrfeigt schon.) Sie darf sogar das Haus verlassen. Auch die Freiheit versprechende Oyster Card darf sie mitnehmen, wenn sie die Einkäufe der Familie im Londoner Stadtteil Willesden erledigt. Nicht so gut: Ihren Pass musste sie der Familie bei Arbeitsantritt aushändigen – und ihren Lohn bekommt sie auch nicht ausgezahlt, schließlich verursacht Fatou Kosten bei der Nahrungsaufnahme und beim Wasserverbrauch.
Was bleibt. Das Blogger-Jahr 2014
Was bleibt vom Blogger-Jahr 2014? Es bleiben erste persönliche Treffen mit Bloggern und – wie bereits im letzten Blogger-Jahr – zahlreiche Blog-Beiträge aus meiner virtuellen Nachbarschaft, denen ich auch über das Jahr 2014 hinaus viele Leser wünsche:
- Mit Menschen
Zu diesen Beiträgen zählen in erster Linie die großartigen Texte Newton in Sibirien und Fitness first auf Zeilentiger liest Kesselleben. Seinen genauen Blick für Orte, Situationen und Menschen hat Zeilentiger freundlicherweise auch in einer meiner Lieblingsstädte erprobt und in den wundervollen Snippets from London. Ein Dezemberspaziergang festgehalten.
Und es begab sich zu jener Zeit
Und es begab sich zu jener Zeit, als die Furcht vor dem Fremden wieder groß war, dass ein haitianisches Jesuskind mit der Post geliefert wurde. Und siehe da, es war ein Jesuskind mit dunkler Haut – bestaunt von Tieren und Menschen aller Couleur, sanft gebettet im Zeitungspapier der Libération.
Und es begab sich, dass die Beschenkte dachte: So ist es gut. Denn wenn das Jesuskind groß ist, wird es sagen: Selig sind die, die keine Gewalt anwenden. Und: Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit. Und: Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden.
Banksy: Wall and Piece
T-Shirts, Handtaschen, Buttons – auf dem Londoner Portobello Market in Notting Hill ist Che Guevara in allen Formen und Preislagen zu kaufen. Eines Morgens blickt der Revolutionär jedoch auf einmal in vielfacher, überlebensgroßer Ausfertigung von der Eisenbrücke hinunter auf den Ort seiner Vermarktung.
„Ich glaube, ich habe versucht ein Statement gegen das endlose Recycling einer Ikone abzugeben“, sagt Banksy, der in einer Nacht- und Nebelaktion die Wanddekoration angebracht hatte. „Die Menschen glauben offenbar, dass sie sich nicht mehr wie ein Revolutionär verhalten müssen, wenn sie sich wie ein Revolutionär kleiden.“
Neulich, beim Schrubben der Taubenkacke
Einen Kopf kleiner als ich und ungefähr dreißig Jahre älter. Der Herr im abgetragenen Anzug nähert sich im Zickzackkurs, während ich der urbanen Taubenkacke den Kampf ansage. Mit einem kleinen Zettel in der Hand winkt er mir zu, deutet auf sich selbst und sagt: „Syrien.“
„Hallo“, sage ich so weltoffen, wie es einem Deutschen möglich ist.
Stattlektion: Leerstandstraum mit Gregory Peck
Letzte Nacht träumte mir, ich sei wieder am Mainzer Hauptbahnhof. Mir war, als erhielte ich von hinten einen kleinen Schubser. Und tatsächlich, es war Gregory Peck. Er sprach Arabisch, doch ich konnte ihn mühelos verstehen.
„Hier“, sagte Gregory, indem er mich hinaus auf den Bahnhofsplatz zog, „hier bin ich früher oft abgestiegen, und es war immer ein Heidenspaß.“ Mit jungenhafter Geste wies er hinüber zu jenem Ort, der sich Central Hotel Eden nennt.
„Hier?“, fragte ich erstaunt. „Das Hotel steht nun schon seit Jahren leer.“
„Aber keineswegs“, entgegnete Gregory, „schau doch mal durch die Fenster“.
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Lesen macht dumm, sprach der Rattenfänger und tötete den letzten Moskito
Einst sprach ich mit einem Freund aus Südamerika über den damals gerade erschienenen Fantasy-Roman Deutschland schafft sich ab von Thilo Sarrazin.
„Wie“, fragte mich der Freund erstaunt auf Spanisch, „im Deutschen kann man das Verb ‚abschaffen‘ reflexiv verwenden?“ „Nein“, sagte ich, „das tun nur Deutsche, die von ihren Mitbürgern behaupten, dass sie weder arbeiten noch Deutsch lernen wollen.“ „Cazador de ratas“, sagte der Freund am anderen Ende der Skype-Leitung. „Ja“, sagte ich, „Rattenfänger“.
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Denk ich an Mainz in der Nacht…
Kaiserstraße Mainz, 10. November 1938: „Dann gab es ein fürchterliches Krachen an unserer Wohnungstür, und bevor wir wussten, wie uns geschah, standen wir plötzlich einer großen Horde von Männern gegenüber […] Alles splitterte und brach in Stücke.“
Nachbarn sammeln die im Hof verstreute Kleidung auf. Am folgenden Tag schaut ein Polizist vorbei. Er verspricht der Familie, dass dem Vater, der sich auf dem Speicher versteckt, nichts geschehen werde. Aber danach, so Renata Schwarz in ihren Erinnerungen Von Mainz nach La Paz, war nichts mehr wie zuvor. Der Vater kann nach den Ereignissen vom 10. November acht Tage lang nicht sprechen: „Bei ihm war innerlich etwas zerbrochen.“ Renatas Familie flieht nach Lateinamerika.