Go east: Elf Stunden und fünf Minuten Erfurt

Nimmt man in einer kleinen Landeshauptstadt Westdeutschlands den ICE um 05:12 Uhr via Frankfurt/Main und jenen zurück um 20:31 Uhr, zahlt man nicht nur überzeugende 27 Euro pro Fahrt, es bleiben auch elf Stunden und fünf Minuten zur Besichtigung von Thüringens Landeshauptstadt Erfurt. Und da sieht die Reisende Folgendes:

Vor dem Bahnhof zunächst die semiikonische Begrüßung „Willy Brandt ans Fenster“ über dem ehemaligen Hotel Erfurter Hof, die an den spontanen Empfang Willy Brandts durch Erfurter Bürger*innen erinnert, nachdem dieser mit dem Sonderzug aus Westdeutschland angereist war.

Hinter dem Bahnhof, es sind zehn Minuten geschlenderter Fußweg, befindet sich der Erfurter Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz auf dem ehemaligen Gelände des Unternehmens. Topf & Söhne produzierte Verbrennungsöfen sowie Lüftungstechnik für die Gaskammern in deutschen Konzentrationslagern. Die Firmeninhaber, so heißt es, waren „keine fanatischen Nationalsozialisten“, das Unternehmen generierte lediglich 2% des Gesamtumsatzes mit Lieferungen an Konzentrationslager. Niemand zwang sie zu dieser Produktion. Gleichzeitig schrieben sie, wenn es um Finanzen ging, wenig untertänige Mahnungen an die „Zentral-Bauleitung der Waffen-SS und Polizei“ in Auschwitz: „Wegen der verschiedenen Rechnungsbeträge haben wir Ihnen bereits wiederholt geschrieben und um Bezahlung gebeten.“ Im dritten Stock – damals wie heute – freier Blick auf den Weimarer Ettersberg, auf dem sich das Konzentrationslager Buchenwald befand. Die Firmenleitung behandelte das „Ungeheuerliche als Normalität“, so das Fazit (und die Mahnung) des Erinnerungsortes.

Dann die Kleine Synagoge Erfurt mit der Ausstellung „Vom Kalten Keller und falschen Versprechungen – Neue jiddische Funde aus dem Mittelalter“. Die Kleine Synagoge wurde nach Umzug der Gemeinde in die Große Synagoge ab Ende des 19. Jahrhunderts zunächst als Wohnhaus genutzt, sodass sie der Zerstörung im Nationalsozialismus entging. Die heutige Begegnungsstätte – mit sehr freundlichen Menschen am Empfang – ist hübsch direkt am Wasser in der Altstadt gelegen. Einige Schritte weiter befindet sich die Alte Synagoge, die mit ihren Bauteilen aus dem 11. Jahrhundert die älteste „bis zum Dach“ erhaltene Synagoge in Mitteleuropa ist. Ja, ihr habt richtig gezählt: drei Synagogen in Erfurt. Sieben Tage nach diesem Besuch wurde das Jüdisch-Mittelalterliche Erbe in Erfurt zum UNESCO-Welterbe erklärt.

Die Straßen von Erfurt I: Juri Gagarin, links oben und rechts unten im Bild. Stencil „El mes del Diego“. Altstadt: Hiding in the backstreets. Vor den Treppen des Erfurter Doms: Die Namenssteine erinnern an Menschen, die an den Folgen von AIDS gestorben sind: Menschen aus Erfurt, Rock Hudson und Freddie Mercury – Erinnerungsprojekt Mémoire nomade – Namen und Steine des Künstlers Tom Fecht.

In direkter Sichtweite vom Domplatz befindet sich die Erfurter Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße. Hier wurden bis 1989 politische Oppositionelle in Stasi-„Untersuchungshaft“ genommen. Eine schalldämpfende Tür zum Verhörzimmer spricht Bände. Ebenfalls hier haben mutige Menschen 1989 zum ersten Mal eine Stasi-Bezirksverwaltung besetzt und damit die Vernichtung von Stasi-Akten und anderer Beweismittel verhindert. Sehr beeindruckend.

Die Straßen von Erfurt II: Stabil gegen Faschismus und Antisemitismus.

Ob das nicht alles ein bisschen stressig für einen Tag ist? Ja, furchtbar:

Der Zug war pünktlich.

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