„Ein klitzekleines Schaudern an der Oberfläche der Welt.“ – Éric Vuillard: Kongo

Am 26. Februar 1885 endet die Kongo-Konferenz. Der belgische König Leopold II. ist nun Besitzer eines afrikanischen Staates: „Eine riesige Tasche mitten in Afrika. Nur für Leopold.“ Und schon strömen sie aus, die kleinen Beamten, die vermeintlichen Experten, die Hasardeure, sie alle im Auftrag Leopolds, „und wohin wir auch kamen, gab es neues Land, wohin wir auch kamen, hatten die Völker seit Jahrhunderten für uns gespart; sie hatten alles gespart: ihren Kautschuk, ihren Zucker, ihren Kaffee, ihre Kraft, ihre Frauen, ihr Leben.“

Morton Stanley, „ein bisschen Schmierenkomödiant“, soll unterdessen das Kongobecken zugänglich machen. „Da Mister Stanley ihn entdeckt hat, den Kongo, wird er wohl auch wissen, wo er endet.“ Stanley raubt so viel Land, wie er kann: „So was hat man noch nie erlebt. Er lässt einen Haufen Papierkram von afrikanischen Häuptlingen unterschreiben, die nichts davon verstehen. Hier! Eure Unterschrift! [Und] wenn sie nicht unterschreiben, werden sie abgemurkst.“

Über all dem steht König Leopold, „wie der Zauberer von Oz“. Und wie Stanley tut auch Charles Lemaire im Kongo seine Pflicht, „seine schreckliche kleine Pflicht“. Weiterlesen „„Ein klitzekleines Schaudern an der Oberfläche der Welt.“ – Éric Vuillard: Kongo“

Zenobia: „Das Meer ist jetzt ruhig.“

Die kleine Amina kennt viele gute Verstecke: unter dem Bett, im Schrank, hinter dem großen Sessel, in der Waschküche. Verstecken ist ihr Lieblingsspiel. Ihre Mutter braucht immer sehr lange, um sie zu finden. Oder zumindest tut sie so. Amina isst auch gerne die gefüllten Weinblätter, die ihre Mutter zubereitet. Aminas Vater mag die gefüllten Weinblätter ebenfalls. Oder zumindest tut er so. Animas Vater ist ein schlechter Lügner.

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„Menschliche Mausefalle“ – Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus

Viele Jahre vor Günter Wallraff: Die US-amerikanische Journalistin Nellie Bly schleust sich undercover in eine Psychiatrie ein. Und wie in Wallraffs Reportage von 1969 über seine Erlebnisse in der Psychiatrie von Goddelau, stellt sich Nellie Bly 1887 eine wesentliche Frage: „Wie werden Sie mich herausholen“, fragt sie ihren Herausgeber von der New York World, „wenn ich einmal drin bin?“. Mit der Diagnose „gesund“ die Klinik verlassen zu können, das schien Bly ebenso wenig vorstellbar wie es sich später bei Wallraff herausstellen sollte. Weiterlesen „„Menschliche Mausefalle“ – Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus“

Vom nationalen Unwohlsein – Ondjaki: Die Durchsichtigen

Es atmet wie ein „lebendiges Wesen“, das Maianga-Gebäude im Herzen Luandas, mit seinen verwinkelten Gängen, den „ins Nirgendwo führenden Türen“ und dem riesigen Loch im Erdgeschoss. Während die Hitze die angolanische Hauptstadt durchdringt, sprudelt es im ersten Stock des Hauses. Das ewige Wasser geborstener Rohre flutet das düstere Stockwerk – „ein Fluss ist das […], nur Fische fehlen noch und Krokodile“, sagt Bewohnerin OmaKunjikise, „und dann heißt es, Jesus sei über das Wasser gelaufen!, einen Scheiß ist er“, sagt der Minister.

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#delicious_german_viza

Assaf Alassaf: Abu Jürgen. Mein Leben mit dem deutschen Botschafter

Im Rahmen seiner Kampagne für das deutsche Visum schwört Abu Rita der argentinischen Fußballmannschaft ab, er lässt das Haus der deutschen Botschaft in Beirut bespitzeln, liest Brecht und gibt eine maßgeschneiderte „schwarze Hose aus Pfirsichsamt mit achtzehn Bundfalten“ in Auftrag – was man als Syrer eben so für ein deutsches Visum tut.

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„Die Tauben verstanden das aber nicht.“ – Abbas Khider: Die Orangen des Präsidenten

Als Mahdi neun Jahr alt ist, fällt sein Vater im Ersten Golfkrieg. Seitdem nennt man Mahdi den Märtyrersohn. In der Schule erhält er als Belohnung in allen Fächern zehn Punkte. Seine Mutter, ganz pragmatisch, kauft mit dem Geldgeschenk der irakischen Regierung eine Wohnung und eröffnet einen kleinen Laden – den nennt sie „Märtyrergemüsegeschäft“.

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„Diese Welt ist ein Wald.“ – Ein Chat von der Flucht

Mein Akku ist gleich leer. Chat von einer Flucht. Mikrotext„Das ist keine Reise, das ist ein Roman“, schreibt Faiz. Da ist er schon mehrere Wochen unterwegs. Eine „furchtbare Reise“ sei es, teilt er Julia im Chat mit. Und auch: „Es ist alles ein Abenteuer oder ein Roman.“

In seiner syrischen Heimat war Faiz Medienaktivist. Nun wird er gesucht, „vom Regime und von ISIS“. Seine Flucht führt ihn aus der Türkei durch Mazedonien und Serbien, dann nach Rumänien. Julia ist Faiz‘ virtuelle Reisebegleiterin. Immer wieder fragt sie ihn, wie sie ihm helfen könne. Sie erlebt die einzelnen Etappen seiner Flucht und immer wieder die Rückschläge. Mehrmals wird Faiz von der Polizei aufgegriffen, landet im Gefängnis: „Ich geh einfach zurück nach Syrien. Ich bin ein Pechvogel. Immer werde ich erwischt.“

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NoViolet Bulawayo: Wir brauchen neue Namen

Wir brauchen neue NamenNamen gibt es viele in diesem Roman: Da ist die junge Protagonistin Darling, die mit ihren Freunden Bastard, Chipo und Godknows durch die Straßen ihres Ortes zieht. Der Ort trägt den Namen Paradise. Paradise ist eine Blechhüttensiedlung.

Um sich die Zeit zu vertreiben, erfinden Darling und ihre Freunde Spiele, zum Beispiel das Landspiel: „Aber vorher müssen wir uns um die Namen streiten, weil alle bestimmte Länder sein wollen, also alle wollen USA sein und England und Kanada… Keiner will so ein lumpiges Land sein wie Kongo, Somalia oder Irak, wie Sudan, Haiti oder Sri Lanka oder auch das, in dem wir leben.“

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Liza Codys Obdachlosenroman Lady Bag: „Quasseln, quasseln, quasseln und nichts merken.“

London-Literatur Lady BagEine Obdachlose mit Hund versucht, ein Verbrechen in London aufzuklären. Das ist der Plot (um es kurz zu machen) von Lady Bag. Und dennoch habe ich keinen Kriminalroman gelesen.

Gelesen habe ich einen Großstadtroman aus der Perspektive einer Ausgestoßenen. Ihre besten Freunde sind der Rotwein und Hund Elektra. Das war nicht immer so. Erst einmal ihr Vermögen und ihren gut bezahlten Job verloren, geht es – aus der Sicht der Gesellschaft – für sie bergab:

„Sie besorgen dir eine Behelfsunterkunft in einer Vorstadtpension, meilenweit von Sozial- und Arbeitsamt. Du hast kein Geld für den Bus, also brauchst du Stunden, um zu Fuß hinzulaufen, nur um festzustellen, dass das zuständige Büro geschlossen hat.“

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Wie groß sollte unser Aufmerksamkeitskreis sein? Zadie Smiths Erzählung „Die Botschaft von Kambodscha“

London-Literatur_Zadie Smith Botschaft KambodschaIn einer alten Metro-Ausgabe liest Fatou die Geschichte einer Londoner Sklavin. Wenn Fatou ihr eigenes Leben als Haushälterin im Nordwesten von London mit dieser Sklavin vergleicht, dann geht es ihr eigentlich ganz gut.

Sie wurde noch nie von ihren Arbeitgebern verprügelt. (Gut, geohrfeigt schon.) Sie darf sogar das Haus verlassen. Auch die Freiheit versprechende Oyster Card darf sie mitnehmen, wenn sie die Einkäufe der Familie im Londoner Stadtteil Willesden erledigt. Nicht so gut: Ihren Pass musste sie der Familie bei Arbeitsantritt aushändigen – und ihren Lohn bekommt sie auch nicht ausgezahlt, schließlich verursacht Fatou Kosten bei der Nahrungsaufnahme und beim Wasserverbrauch.

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„Das Land ist im Arsch.“ – In Koli Jean Bofanes Roman „Sinusbögen überm Kongo“

Literatur_Sinusbögen überm KongoWie Ameisenheere strömen die Menschenmassen täglich zu Fuß nach Kinshasa, in diese magische Stadt, die mit ihren modernen Hochhäusern Arbeit und Wohlstand verspricht. In dieser „grausamen Königin“ Kinshasa, die sich von den Hoffnungen und Träumen der Kongolesen ernährt, lebt Celio.

Celio, das ehemalige Waisenkind, schlägt sich gerade so durch. Er geht von Haus zu Haus und bittet um Spenden für eine „NGO, die sich mit allem und nichts beschäftigt“. Seine eigentliche Berufung ist die Mathematik – allein die Nachfrage nach Sinuskurven und Hypotenusen fehlt.

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Banksy: Wall and Piece

Banksy Wall and PieceT-Shirts, Handtaschen, Buttons – auf dem Londoner Portobello Market in Notting Hill ist Che Guevara in allen Formen und Preislagen zu kaufen. Eines Morgens blickt der Revolutionär jedoch auf einmal in vielfacher, überlebensgroßer Ausfertigung von der Eisenbrücke hinunter auf den Ort seiner Vermarktung.

„Ich glaube, ich habe versucht ein Statement gegen das endlose Recycling einer Ikone abzugeben“, sagt Banksy, der in einer Nacht- und Nebelaktion die Wanddekoration angebracht hatte. „Die Menschen glauben offenbar, dass sie sich nicht mehr wie ein Revolutionär verhalten müssen, wenn sie sich wie ein Revolutionär kleiden.“

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„Am Ende war das Wort.“ – Nona Fernández: Die Toten im trüben Wasser des Mapocho

Literatur Chile Fernández Wasser MapochoEs sind keine schönen Geschichten, die man sich in den Straßen von Santiago de Chile erzählt. Da gibt es den Indigenen Lautaro, dessen Kopf einst von den spanischen Eroberern auf eine Lanze aufgespießt und in den Fluten des Mapocho versenkt wurde. Seit dieser Zeit geistert Lautaro als kopfloser Reiter durch die Stadt.

Und dann gibt es den Teufel höchstpersönlich, der von zahllosen Sklaven die erste feste Brücke der Stadt erbauen ließ, dank der Santiago „die Tentakeln“ ausstreckte und „den Duft des Paradieses unter dem Zement des Fortschritts“ begrub. Ein Mann in Lumpen. In seinem Handkarren schläft eine Frau, ihre Eingeweide hängen heraus. Man hat ihr das Kind aus dem Bauch gerissen. Das ist ihre Geschichte.

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Sing mir ein Lied vom Drogenbaron – Erazo Heufelders Reisereportage „Drogenkorridor Mexiko“

Drogenkorridor MexikoHoch oben, auf dem Friedhof von Santiago de los Caballeros, thront vor der malerischen Kulisse der Sierra Madre ein gigantischer Marmortempel. Es soll die letzte Ruhestätte des Drogenbosses Ernesto Fonseca Carrillo werden – nachdem er im Gefängnis seine lebenslange Haftstrafe abgesessen hat.

Ihre Denkmäler lassen sich die mexikanischen Drogenbarone schon zu Lebzeiten errichten. Und während sich korrupte Politiker am Drogenhandel bereichern, verkaufen sich Drogenbarone als vermeintliche Philanthropen. Den Menschen in Badiraguato, so schreibt Erazo Heufelder in ihrer Reportage Drogenkorridor Mexiko, sei der Drogenbaron Rafael Caro Quintero als größter Gönner ihrer Gemeinde in Erinnerung geblieben. Er habe nicht nur Schulen und Kirchen bauen lassen, sondern auch abgelegene Ortschaften mit Strom versorgt.

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„Das hier ist die Welt.” – Eliane Brums Fußballgeschichte „Raimundo und der Ball”

Raimundo und der BallIrgendwo im brasilianischen Urwald steht eine geheimnisvolle Truhe, gefüllt mit vergilbten Blättern. Raimundos Urgroßvater hatte sie an jenen Ort mitgebracht, getrieben von den Versprechungen, den Gummibäumen des Urwalds ihre Milch entreißen zu können. Der Inhalt der alten Blätter bleibt seinen Nachfahren verborgen, „denn die Schule hatte als Erste geschlossen, als Gummi fast nur noch so wenig wert war wie ein Mensch”.

An dem Tag, als Raimundos Kindheit endet, zaubert sein Vater noch etwas anderes aus der Truhe. Es ist ein Fußball, den er mit den feierlichen Worten überreicht: „Raimundo, mein Sohn, das hier ist die Welt.”

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„Wenn ihr gewinnt, kostet es euch den Kopf.“ – Eduardo Galeanos „Der Ball ist rund“

Galeano_Der Ball ist rundIm Dezember 1951 bricht der junge Ernesto Guevara mit seinem Freund Alberto Granado zu einer Motorradreise durch Südamerika auf. Nicht ohne Stolz schreibt er aus Kolumbien an seine Mutter: „Ich hielt einen Elfmeter, eine Torwartparade, die in die Geschichte von Leticias eingehen wird.“

Und in Algerien hat es sich der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Albert Camus angewöhnt, ausschließlich als Torhüter zu spielen: „Jeden Abend sah die Großmutter die Sohlen seiner Schuhe nach und verabreichte ihm eine gehörige Tracht Prügel, wenn sie wieder einmal zu sehr abgenutzt aussahen.“

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Vom unverschämten Glück, immer eine Pechsträhne zu erwischen – Georges Anglades „Das Lachen Haitis“

Das Lachen HaitisGeschichtsunterricht in Port-au-Prince: „Gegeben sei der Gesamthaushalt Frankreichs in diesem Jahr und ein zum Kapital geschlagener Zins von 12% über hundertfünfzig Jahre (1825-1975). Berechnen Sie, welcher Betrag Haiti eines Tages zusteht. Korrekte Antwort: Die Summe ist so hoch, dass Frankreich zur Begleichung dieser Schulden sein Juwel, den Eiffelturm, versetzen müsste.

Die Haitianer als legitime Erben und Gläubiger des Eiffelturms: Das war schon etwas!“, findet der Erzähler in Georges Anglades Das Lachen Haitis. In neunzig Miniaturen nimmt Anglade den Leser mit auf eine Reise durch Haitis jüngste Geschichte. 

Mit viel Ironie und großer Sympathie schildert Anglade das Leben in der haitianischen Provinz: In Quina, wo sich die Koryphäen ihres Fachs zum Krabbengipfel treffen, wird die Systematik der Krustentiere, die über 5.000 Krabbenarten umfasst, neu geschrieben: Wir taten uns noch weiter hervor und teilten sie feiner in essbare, nicht essbare und tödliche ein. Ein origineller Beitrag von Quina.

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João Paulo Cuenca: Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall

glueckliches_endeYoshiko ist die perfekte Frau: dunkelbraune Augen, perlweiße Haut, Brustumfang: 92,5 cm. Hergestellt wurde sie im japanischen Unternehmen Luvdoll Inc. Sie ist die teuerste Puppe, die jemals in Japan produziert wurde. Und sie hat nur eine Aufgabe: ihrem Meister Atsuo Okuda zu dienen. Dieser hat nämlich 50 Millionen Yen für seine persönliche Spezialanfertigung gezahlt.

Neben Yoshiko hat Herr Okuda noch eine andere bizarre Leidenschaft, nämlich sein U-Boot. So nennt er seinen Überwachungsapparat aus Kameras, Mikrofonen und angezapften Telefonleitungen, mit dem er ganz Tokio überwacht.

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Magischer Realismus war gestern: Lateinamerika-Literatur im Rückblick

Nachdem danares.mag Anfang März den ersten Blog-Geburtstag feierte (und neuerdings auch in Facebook auf Leser wartet), möchte ich nun das erste öffentliche Lesejahr zur lateinamerikanischen Literatur rekapitulieren.

Wer zeitgenössische Literatur aus Lateinamerika abseits von Verkaufsgaranten wie García Márquez, Vargas Llosa oder Isabel Allende liest, wird feststellen: Lateinamerikanische Literatur ist witzig, unterhaltsam, tiefgründig, manchmal ganz schön brutal, meistens erfreulich kurz und bündig – und sie ist vor allem eines: auf der Höhe der Zeit.

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„Ganz anders als die Mörder aus Büchern und Filmen“ – „Der Pistoleiro“ von Klester Cavalcanti

cover_Der Pistoleiro.inddJúlio ist 17 Jahre alt, als er seinen ersten Mord begeht. Sein Onkel Cícero bittet ihn um diesen Gefallen. Cícero arbeitet als Polizist. Das jedenfalls glaubt seine Familie. In Wahrheit verdient Cícero sein Geld als Auftragsmörder, als so genannter Pistoleiro. Aufgrund seiner Malaria-Erkrankung kann Cícero nicht selbst zur Tat schreiten. „Wenn du den Auftrag nicht erledigst, werde ich umgebracht“, erklärt er seinem Neffen Júlio: „Wenn man das Geld bekommen hat, muss man die Arbeit machen. Sonst wird der Pistoleiro selbst umgebracht.“

Júlios erstes Opfer ist der Fischer Amarelo, der zwei Wochen zuvor ein 13-jähriges Mädchen vergewaltigt hat. Júlio erschießt Amarelo im brasilianischen Regenwald, er schlitzt seinen Bauch auf und wirft ihn in den Fluss, wo die Piranhas von dem frischen Blut angelockt werden. So hatte es ihm Onkel Cícero aufgetragen. Nach der Tat fällt Júlio auf die Knie und spricht zehn Ave Maria und zwanzig Vaterunser. Auch das hatte Cícero ihm geraten. Dann schwört Júlio, dass er nie mehr einen Menschen töten wird. Das ist im August 1971.

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„Bis die Berge auf ihre Kitschpaläste fallen…“ – Gary Victors Haiti-Krimi „Schweinezeiten“

SchweinezeitenInspektor Dieuswalwe Azémar trinkt im Übermaß, er hat eine problematische Beziehung zu Frauen (und Männern) – und er leidet an dem Widerspruch von Recht und Gerechtigkeit. Darin steht Inspektor Azémar aus Haiti seinen literarischen Crime-Noir-Vorgängern also in nichts nach.

Seltener allerdings hat man es bisher in der Kriminalliteratur erlebt, dass sich Menschen über Nacht in Schweine verwandeln. Dies nämlich widerfährt Azémars Ex-Kollegen Colin, der zwei Jahre zuvor mittels politischer Beziehungen einen besser bezahlten Posten antrat und – nach Auffassung von Azémar – damit gleichzeitig seine Ideale aufgab.

Gelegentlich denkt Azémar darüber nach, es seinen korrupten Polizei-Kollegen gleichzutun: „Schließlich haben sie doch alle ihre Seele verkauft. Für einen Moment des kurzlebigen Glücks, bis die Berge auf ihre Villen und ihre Kitschpaläste fallen.“

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Fußballträume und Männertragödien in der Atacama-Wüste: Hernán Rivera Leteliers Roman „Der Traumkicker“

TraumkickerIn der chilenischen Salpeter-Siedlung Coya Sur stehen die Zeichen auf Sturm: Das Lokalderby gegen den Erzrivalen aus dem Nachbarort María Elena steht bevor, und dieses Mal – da sind sich alle einig – will man nicht gegen die „Staubfresser“ verlieren. Beim letzten Fußball-Match gegen María Elena habe man, so Dorf-Sheriff Concha, „gespielt wie noch nie und verloren wie immer“.

Die Lage scheint aussichtslos, doch dann taucht plötzlich ein Fremder in der Siedlung auf, der sich als Virtuose am Ball erweist. Don Celestino Rojas, der frömmelnde Präsident der Fußball-Vereinigung, ist überzeugt: „Der Mann ist der Messias.“

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alba. lateinamerika lesen | Zeitschrift für lateinamerikanische Literatur

alba lateinamerika lesen 04_Cover„Aus Geld gedeiht nur Müll. Müll und Scheiße.“  So spricht Erasmo – und er muss es wissen, denn Erasmo arbeitet bei der Müllabfuhr. Auf der Rangliste der Elenden nimmt er jedoch nicht den letzten Platz ein, denn dies sind die Menschen auf den Müllhalden, die ebenfalls auf der Suche nach dem kostbaren Gut sind. Die Reichen erkennt man unterdessen an ihrer Scheiße: „Konzentrierte Kacke. Kommt vom guten Essen.“

Mit Ana Paula Maia findet der Müllmann Eingang in die brasilianische Literatur, und zwar als Protagonist in Die Drecksarbeit der Anderen. Dass wir dieses Ereignis in Deutschland relativ zeitnah in einem Auszug miterleben dürfen, haben wir Wanda Jakob zu verdanken, die bereits Ana Paula Maias Roman Krieg der Bastarde so wundervoll aus dem brasilianischen Portugiesisch ins Deutsche übertragen hat. Vor allem ist es aber ein Verdienst von alba. lateinamerika lesen.

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Memo Anjel: Das meschuggene Jahr | Literatur aus Kolumbien

Memo Aniel_Das meschuggene JahrNächstes Jahr in Jerusalem! So lautet der bekannte Wunsch beim jüdischen Pessach-Fest. Für die jüdische Großfamilie in Memo Anjels Roman Das meschuggene Jahr soll dieser Wunsch endlich in Erfüllung gehen, denn die Reise aus dem kolumbianischen Medellín nach Jerusalem scheiterte in der Vergangenheit stets an Geldmangel.

Die notwendigen finanziellen Mittel erhofft sich der Vater von der Erfindung seines Lebens: einer wundersamen Brotfabrikmaschine, die alle Prozesse einer Brotfabrik in sich vereint – entwickelt auf Grundlage des zweiten Newton’schen Gesetzes, der Kaballah und der schönen Literatur.

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Edgardo Cozarinsky: Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich… | Literatur aus Argentinien

Cozarinsky_Man nennt michAm Anfang war ein jiddisches Theaterstück. Zugegeben, ein schlechtes Revuestück, das zudem den reißerischen Titel Der moldawische Zuhälter trägt. Es erzählt die Geschichte von Taube, die gemeinsam mit anderen osteuropäischen Mädchen unter falschen Versprechungen nach Argentinien gelockt wird.

In der Neuen Welt erwartet sie ein Leben im Bordell. Wer nicht spurt, wird bestraft. Doch in einem Revuestück lässt der Kitsch nicht lange auf sich warten: Der Zuhälter Méndele wandelt sich vom Bösen zum Guten, rettet Taube aus ihrer misslichen Lage und beide tanzen, begleitet von Tango-Rhythmen, einem besseren Leben entgegen.

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João Paulo Cuenca: Mastroianni. Ein Tag | Literatur aus Brasilien

a1_titelAls Buck Mulligan zu Beginn des Ulysses das Geschützlager des Martello Tower ersteigt, weht eine milde Morgenluft. Zu dieser Tageszeit liegt Tomás, Protagonist in Cuencas Roman Mastroianni. Ein Tag noch im Bett. Nach seinem Weckruf um 10:32 Uhr folgt die Schilderung eines einzigen Tages in einer Großstadt, in einem Roman mit 18 Episoden.

Wenn der Leser dies zu kennen glaubt, dann geht es ihm nicht anders als den Protagonisten: „Mir kommt das alles hier wie vorgestern vor, meint Tómas zu Pedro, während sie durch das namentlich nicht genannte Rio de Janeiro flanieren. Sie kehren bei einem Coiffeur namens Péricles ein, und in der Bar werden sie von Cícero bedient.  Dabei besteht ihr Tagwerk allein im Müßiggang:

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Zé do Rock: per anhalter durch die brasilianische galaxis

Ze do RockEr ist Autor, Filmemacher, Weltreisender – vor allem aber ist Zé do Rock Sprachkünstler. Im brasilianischen Porto Alegre geboren und in München „hängengeblieben“,  verständigt sich Zé do Rock auf Ultradoitsh, bisweilen auch auf Wunschdeutsch.

Und das sieht dann so aus: „Di brasili sit sich als ein friedlichen mensch und wird auch von auslandis meistens so empfunden, es sei denn, sie ham mit raubis, policei oder behörden zu tun.“

In seinem soeben beim A1 Verlag erschienenen Buch per anhalter durch die brasilianische galaxis dokumentiert Zé do Rock seine jüngste Reise durch Brasilien. Von der venezolanischen Grenze im Norden bis in den Süden, an die Grenze Uruguays, bereiste er das Land per Anhalter.

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Die Zauberberge Brasiliens: Über die Romane „Krieg der Bastarde“ und „Leichendieb“

ZEITNAHAnlässlich der Frankfurter Buchmesse durfte ich
für das Kulturmagazin Zeitnah die beiden sehr lesenswerten Romane Leichendieb von Patrícia Melo und Krieg der Bastarde von Ana Paula Maia vorstellen.

Patrícia Melo ist Gewinnerin des diesjährigen LiBeraturpreises, der sich ausschließlich an schreibende Frauen richtet. Ana Paula Maias in jeder Hinsicht spektakulärer Roman Krieg der Bastarde belegt auf der aktuellen Weltempfänger-Bestenliste den dritten Platz.

Hier geht es zum Beitrag Die Zauberberge Brasiliens. Über die Romane «Krieg der Bastarde» und «Leichendieb».

Roger Willemsen: Hier spricht Guantánamo

Willemsen: GuantánamoHussein ist Lehrer. Er unterrichtet afghanische Flüchtlingskinder in Religion und Arabisch. Man möchte meinen, dies sei eine anerkennenswerte Arbeit – wäre da nur nicht der 11. September und der hierauf folgende „Krieg gegen den Terror“ gewesen. Hussein sitzt gerade mit seiner Familie beim Abendessen, als  die pakistanische Polizei an seiner Tür klingelt, ihn verhaftet und gegen Bezahlung an die USA ausliefert – wegen seiner Kontakte mit Afghanen.

Hussein wird zunächst in Peshawar inhaftiert. Zehn Tage später geht es nach Islamabad. Hier werden „die pakistanischen Fesseln gegen amerikanische Fesseln aus Plastik ausgetauscht“. Die sitzen fester. Es folgen zwei Monate Haft in Bagram, dann zwanzig Monate im Lager Guantánamo.

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„Krieg der Bastarde“ in Mainz: Lesung mit Ana Paula Maia

Mit Krieg der Bastarde habe sie ihre literarische Stimme gefunden, sagt Ana Paula Maia. Und was für eine Stimme das ist!

Im Mainzer Lomo stellte Ana Paula Maia gestern Abend gemeinsam mit ihrer deutschen Übersetzerin Wanda Jakob einen Roman vor, der in Brasilien bereits 2007 auf den Markt kam und erst vor wenigen Wochen auf Deutsch beim A1 Verlag erschienen ist.

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