„San s’net tierisch?“ – Hertha Paulis Erinnerungen, featuring Ausbürgerungen, Austrofaschismus und den Engel von Marseille

„Du musst jetzt rasch fort“, sagt Hertha Pauli im Wiener Café Herrendorf zu Walter Mehring. „Und du?“, fragt Mehring. „Bei uns ist es doch etwas anderes anderes. Wir müssen am Sonntag wählen“, entgegnet Hertha Pauli.

Für diesen Sonntag, den 13. März 1938, hat der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg eine Volksbefragung angesetzt – für oder gegen ein unabhängiges Österreich. Zu der Volksbefragung wird es nicht mehr kommen. Hitler-Deutschland mobilisiert seine Truppen gegen Österreich. Während die ersten Bomber am Wiener Himmel auftauchen, packt Walter Mehring hastig seine Bücher zusammen, Hertha Pauli und ihr Kollege Carli verstecken die gefährlichsten Manuskripte ihrer Literaturagentur im Garten.

Weiterlesen „„San s’net tierisch?“ – Hertha Paulis Erinnerungen, featuring Ausbürgerungen, Austrofaschismus und den Engel von Marseille“

„Wir müssen uns wie richtige Verbrecher benehmen“ – Lisa Fittko und Varian Fry: Fluchthilfe 1940/1941

„Hoffentlich komme ich nicht ungelegen“, sagt Walter Benjamin höflich zu Lisa Fittko, aber er habe erfahren, dass sie ihn „über die Grenze nach Spanien“ bringen könne.

September 1940. Der Süden Frankreichs ist noch nicht von den Deutschen besetzt. „Alles drängte nach Marseille“, schreibt Lisa Fittko. „Die Stadt war voll gepfropft mit Flüchtlingen, darunter Scharen von deutschen Emigranten. Der große Hafen – vielleicht war dort ein Ausweg aus der Falle.“ Wie unzählige andere Menschen ist Benjamin nach Marseille geflohen, um von dort ein sicheres Exilland zu erreichen. Kurz zuvor war sein erster Fluchtversuch – als Matrose verkleidet – gescheitert.

Weiterlesen „„Wir müssen uns wie richtige Verbrecher benehmen“ – Lisa Fittko und Varian Fry: Fluchthilfe 1940/1941“

„Menschliche Mausefalle“ – Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus

Viele Jahre vor Günter Wallraff: Die US-amerikanische Journalistin Nellie Bly schleust sich undercover in eine Psychiatrie ein. Und wie in Wallraffs Reportage von 1969 über seine Erlebnisse in der Psychiatrie von Goddelau, stellt sich Nellie Bly 1887 eine wesentliche Frage: „Wie werden Sie mich herausholen“, fragt sie ihren Herausgeber von der New York World, „wenn ich einmal drin bin?“. Mit der Diagnose „gesund“ die Klinik verlassen zu können, das schien Bly ebenso wenig vorstellbar wie es sich später bei Wallraff herausstellen sollte. Weiterlesen „„Menschliche Mausefalle“ – Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus“

„Diese Welt ist ein Wald.“ – Ein Chat von der Flucht

Mein Akku ist gleich leer. Chat von einer Flucht. Mikrotext„Das ist keine Reise, das ist ein Roman“, schreibt Faiz. Da ist er schon mehrere Wochen unterwegs. Eine „furchtbare Reise“ sei es, teilt er Julia im Chat mit. Und auch: „Es ist alles ein Abenteuer oder ein Roman.“

In seiner syrischen Heimat war Faiz Medienaktivist. Nun wird er gesucht, „vom Regime und von ISIS“. Seine Flucht führt ihn aus der Türkei durch Mazedonien und Serbien, dann nach Rumänien. Julia ist Faiz‘ virtuelle Reisebegleiterin. Immer wieder fragt sie ihn, wie sie ihm helfen könne. Sie erlebt die einzelnen Etappen seiner Flucht und immer wieder die Rückschläge. Mehrmals wird Faiz von der Polizei aufgegriffen, landet im Gefängnis: „Ich geh einfach zurück nach Syrien. Ich bin ein Pechvogel. Immer werde ich erwischt.“

Weiterlesen „„Diese Welt ist ein Wald.“ – Ein Chat von der Flucht“

Banksy: Wall and Piece

Banksy Wall and PieceT-Shirts, Handtaschen, Buttons – auf dem Londoner Portobello Market in Notting Hill ist Che Guevara in allen Formen und Preislagen zu kaufen. Eines Morgens blickt der Revolutionär jedoch auf einmal in vielfacher, überlebensgroßer Ausfertigung von der Eisenbrücke hinunter auf den Ort seiner Vermarktung.

„Ich glaube, ich habe versucht ein Statement gegen das endlose Recycling einer Ikone abzugeben“, sagt Banksy, der in einer Nacht- und Nebelaktion die Wanddekoration angebracht hatte. „Die Menschen glauben offenbar, dass sie sich nicht mehr wie ein Revolutionär verhalten müssen, wenn sie sich wie ein Revolutionär kleiden.“

Weiterlesen „Banksy: Wall and Piece“

Sing mir ein Lied vom Drogenbaron – Erazo Heufelders Reisereportage „Drogenkorridor Mexiko“

Drogenkorridor MexikoHoch oben, auf dem Friedhof von Santiago de los Caballeros, thront vor der malerischen Kulisse der Sierra Madre ein gigantischer Marmortempel. Es soll die letzte Ruhestätte des Drogenbosses Ernesto Fonseca Carrillo werden – nachdem er im Gefängnis seine lebenslange Haftstrafe abgesessen hat.

Ihre Denkmäler lassen sich die mexikanischen Drogenbarone schon zu Lebzeiten errichten. Und während sich korrupte Politiker am Drogenhandel bereichern, verkaufen sich Drogenbarone als vermeintliche Philanthropen. Den Menschen in Badiraguato, so schreibt Erazo Heufelder in ihrer Reportage Drogenkorridor Mexiko, sei der Drogenbaron Rafael Caro Quintero als größter Gönner ihrer Gemeinde in Erinnerung geblieben. Er habe nicht nur Schulen und Kirchen bauen lassen, sondern auch abgelegene Ortschaften mit Strom versorgt.

Weiterlesen „Sing mir ein Lied vom Drogenbaron – Erazo Heufelders Reisereportage „Drogenkorridor Mexiko““

Die Mainzer Republik, oder: War da was? – Jörg Schweigards „Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein”

Mainzer RepublikSchwer vorzustellen, aber es gab eine Zeit, in der es Schriftsteller und Gelehrte aus aller Welt nach Mainz am Rhein zog. Freimaurer, Illuminaten, Lesegesellschaften, Landsmannschaften – es war einiges los in der Stadt. Im Jahr 1789 erreichte zudem der Pariser Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit den Rhein – und die Toleranz des Mainzer Kurfürsten Karl Friedrich von Erthal seine Grenzen. Denn wo früher hinter verschlossenen Türen debattiert wurde, wurde nun öffentlich protestiert.
Jörg Schweigard berichtet in Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein über die bewegten Jahre vor und während der kurzlebigen Mainzer Republik, die von Oktober 1792 bis Juli 1793 währte. Er stellt die zentralen Akteure der Zeit sowie ihre Organisationsformen vor, die schließlich zum ersten demokratisch gewählten Parlament auf deutschem Boden führten.

Weiterlesen „Die Mainzer Republik, oder: War da was? – Jörg Schweigards „Die Liebe zur Freiheit ruft uns an den Rhein”“

„Wenn ihr gewinnt, kostet es euch den Kopf.“ – Eduardo Galeanos „Der Ball ist rund“

Galeano_Der Ball ist rundIm Dezember 1951 bricht der junge Ernesto Guevara mit seinem Freund Alberto Granado zu einer Motorradreise durch Südamerika auf. Nicht ohne Stolz schreibt er aus Kolumbien an seine Mutter: „Ich hielt einen Elfmeter, eine Torwartparade, die in die Geschichte von Leticias eingehen wird.“

Und in Algerien hat es sich der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Albert Camus angewöhnt, ausschließlich als Torhüter zu spielen: „Jeden Abend sah die Großmutter die Sohlen seiner Schuhe nach und verabreichte ihm eine gehörige Tracht Prügel, wenn sie wieder einmal zu sehr abgenutzt aussahen.“

Weiterlesen „„Wenn ihr gewinnt, kostet es euch den Kopf.“ – Eduardo Galeanos „Der Ball ist rund““